Ottos Geschichte

Otto erzählt:

Mir wurde gesagt, ihr wollt meine Geschichte erfahren, also hört zu! Was das Besondere an meinen Erlebnissen ist, verrate ich Euch aber erst zum Schluss! Ich heiße Otto, weil meine Mama immer Benjamin Blümchen gesehen hat und ich hatte es so eilig auf die Welt zu kommen, dass ich viel zu früh geboren wurde und da war ich nun. Meine Oma war bei meiner Geburt dabei und sagt immer, ich wäre das schönste Baby, was sie je gesehen hätte, und sie hat viele gesehen! Nun werde ich bald zwölf Jahre alt und an meinem Geburtstag feiere ich mit all meinen Freunden eine große Party. Bald könnt Ihr mich im Fernsehen bewundern, wenn Ihr wollt. Ich habe nämlich eine Szene in einem Film gedreht, der bald ausgestrahlt wird. Bei den Dreharbeiten hatte ich viel Spaß mit dem ganzen Team. Wir waren in Potsdam und ich bin ziemlich stolz darauf, mit einer berühmten Schauspielerin zusammen gearbeitet zu haben. Ich sage nur so viel: Im Film „laufe“ ich, Ihr werdet es ja sehen! Das war aber nicht das erste Mal, dass ich in Berlin war. Mit vier Jahren war ich auf dem roten Teppich bei „Tribute to Bambi“, weil AMPU KIDS für seine tolle Arbeit ein Preis übergeben wurde. Es war ein unvergessliches Erlebnis für mich und meine Mama.

Letzten Winter bin ich zum ersten Mal skigefahren und sobald jetzt der Schnee kommt, geht es wieder los. Ich gehe auch oft bummeln durch unsere Stadt mit meinen Freunden aus der Schule, wir sind hier auf dem Gymnasium und dieses Jahr lerne ich Latein. Wir essen dann Pizza und im Sommer gehen wir alle zusammen an einen See und schwimmen. Mein Lieblingssport ist Fußball und mit meinen Armstützen bin ich der Schnellste im Team. Es ist ja nun nicht so außergewöhnlich, was ich alles mache, nicht? Aber das Besondere ist eben, dass ich nur ein Bein habe. Das andere musste amputiert werden – da war ich noch ganz klein. Wie ich schon sagte, bin ich zu früh zur Welt gekommen und mein linkes Bein hatte keinen Oberschenkelknochen und reichte nur bis zum Knie meines rechten Beines. Die ersten zweieinhalb Jahre waren soweit gut, ich konnte mit einer Orthese normal laufen lernen so wie jedes Kind. Mein Bein aber blieb kurz und nur der Fuß ist weiter gewachsen. Die Ärzte entschieden sich für eine Umkehrplastik und operierten mein Bein. Damit ihr euch das vorstellen könnt: Das ganze Bein wird um 90 Grad gedreht, damit aus der Ferse das fehlende Gelenke entsteht. Das ging leider schief und deswegen wurde das ganze linke Bein von der Hüfte an amputiert.


Die Zeit danach war für Mama und mich und meine ganze Familie sehr schwer, aber dann kam Andrea von AMPU KIDS und hat uns Mut gegeben und uns gezeigt, dass das Leben auch mit einem Bein zu meistern ist. Jetzt bin ich groß und stark und kann alles machen und mitmachen, es gibt keine Grenzen, genauso wie die „ Zweibeinigen“ und manchmal bin ich sogar noch schneller!

Andrea berichtet:

Ich erinnere mich als sei es gestern gewesen. An diesem Tag schien der Verkehr in Hamburg besonders dicht zu sein. Endlos quälten sich die Autos durch den Berufsverkehr. Einmal quer durch Hamburg – das ist an manchen Tagen alles andere als eine Freude. Aber ich spürte die Dringlichkeit dieser Verabredung, die ich mit Isabel hatte, die ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte. Eine Erzieherin des Kindergartens, in den Otto, Isabels Sohn, damals ging, hatte mich angerufen und um Unterstützung gebeten. Otto sei ein Kind mit „ganz hoher Amputation“ (einer so genannten Hüft-Ex-Amputation), wie sie sagte. Und viel wichtiger: Die Mama habe große Probleme mit der Situation.


Als ich ihr dann gegenüberstehe, sehe ich eine sehr attraktive Frau mit wunderschönen schwarzen Haaren, die einen Jungen mit leuchtenden Augen und einem blonden Haarschopf auf dem Arm trägt. Aber ich sehe auch die Verzweiflung in den Augen der Mutter und einen kleinen Jungen, der mit aller Macht diese Niedergeschlagenheit verhindern möchte. Die nächsten drei Stunden vergehen wie Minuten. Ich höre die Geschichte von Otto. Es ist eine Geschichte von enttäuschter Hoffnung, Lähmung und Ohnmacht und der Angst vor dem, was kommt. Und immer wieder Fragen: „Wie wird es für Otto weitergehen?“, „Wird es überhaupt weitergehen?“, „Wie kann sein Leben aussehen?“ – Fragen über Fragen, aber auch viel Antworten und Lösungsansätze, die erst einmal das Dickicht der Ohnmacht durchdringen müssen.


Und während des Gespräches erlebe ich Otto: fröhlich, fast grenzenlos beweglich und flink. Seit diesem ersten Kontakt sind fast 9 Jahre vergangen und ich habe seither unendlich viel mit Otto und seiner Familie erlebt. Da war der „Rote Teppich“ bei der Tribute to Bambi-Charity-Veranstaltung. Otto war der Star der After-Show-Party. Bis weit in die Nacht hinein stahl er den Schönen aus der Welt des Films die Show – mit Witz und einem unbändigen Charme. Ganz besonders bewegt hat mich eine Begebenheit im Kindergarten – damals war Otto 6 Jahre alt. Ein Filmteam wollte dokumentieren, wie ich mit Kindern über eine Amputation ihres Kindergarten-Freundes spreche. Als ich mit rund 20 Kindern im Kreis auf dem Boden sitze, frage ich, ob ihnen bei Otto irgendetwas auffällt … ob sie irgendetwas erkennen, das anders ist…. Zunächst ratlose Gesichter und angestrengtes Nachdenken. Dann plötzlich meldet sich ein Mädchen ganz aufgeregt: „Ich weiß es!“ Ich schaue sie fragend an, nicke ihr zu: „Na, dann erzählt doch mal!“ Die Antwort kommt so spontan wie wunderbar überraschend: „Ich habe braune Haare und Otto blonde!“ Otto gehört zum „harten Kern“ unserer AMPU KIDS. Er ist immer mit seiner Familie dabei, kennt die meisten anderen KIDS. Ja, und er ist ein Vorbild für viele. Mit seiner Art, über Dinge nachzudenken, Gedanken zu formulieren ist er vielen seines Alter weit voraus.


Er ist angekommen im Leben, ist sportlich und weiß ganz genau, was er will – aber ebenso genau, was er nicht will. Alle, die Otto kennen, sind sicher: Er wird seinen Weg gehen – trotz seiner Behinderung.

Andrea Vogt
Andrea Vogt
Michael

Michael

Wie schnell ein Unfall mit erheblichen Folgen geschehen kann, zeigt das Portrait von Michael. Es zeigt aber auch, dass ein Leben mit einer Amputation aktiv und lebensfroh sein kann.

Michaels Geschichte