Wie viele Operationen ich hatte? – Keine Ahnung!
Das ist sicher für die meisten schwer zu verkraften und nachzuvollziehen: Warum entscheidet sich eine Familie für eine Amputation? Warum „wählen“ ein Mädchen, das damals gerade einmal 10 Jahre alt ist, und ihre Eltern diesen Weg? Hier erzähle ich die Geschichte von Laura – einem super-starken Mädchen, das in seinen jungen Jahren den OP-Saal schon häufiger gesehen hat, als die meisten Menschen ihn jemals in ihrem Leben sehen werden.
Laura wurde im Juni 2000 geboren. Ein gutes Jahr später bricht zum ersten Mal ihr rechter Unterschenkel. „Morbus Recklinghausen“(*) stellen Ärzte nach vielen Untersuchungen fest. Um den bruchgefährdeten Unterschenkelknochen zu entlasten, bekommt Laura eine Oberschenkelorthese. Aber die Instabilität bleibt. Anfang 2003 transplantiert man ein Stück des linken Wadenbeins an das rechte Schienbein. Dieses Stück muss fünf Monate mit einem Ringfixateur fixiert werden. Aber die erhoffte Stabilisierung bleibt aus: Es folgen immer neue Brüche des Knochens und des transplantierten Skelettstückes. Drähte werden eingesetzt … dann wieder soll das Bein mit Gips gefestigt werden. Zwar heilen die Brüche, es entsteht aber eine deutliche Fehlstellung des Beins. Bald ist das Gehen für Laura nur noch mit einer Orthese und Unterarmstützen möglich.
Ihre Beschwerden werden immer gravierender. Sie hat zunehmend starke Druckschmerzen und weite Strecken kann sie nur noch mit dem Rollstuhl zurücklegen. Es folgen weitere Operationen, z. B. der Einsatz von künstlicher Knochensubstanz, die jedoch aufgrund einer Entzündung wieder entfernt werden muss. Erneut Implantation von Knochenersatz – Laura ist mittlerweile 6 Jahre alt. Eine am Knochen fixierte Platte lockert sich und muss ersetzt werden – wieder kann das Bein nur teilweise mit Oberschenkelorthese belastet werden.
Weiter OPs mit geradezu unglaublichen Versuchen, das Bein zu stabilisieren, folgen. Sogar der Einsatz körpereigener Stammzellen aus dem Hüftknochen führt nicht zum erhofften Erfolg. Als Laura 10 Jahre alt ist, wird eine Magnetspule in ihr Bein implantiert. Nun muss sich Laura ein halbes Jahr lang dreimal täglich 45 Minuten einer Magnetfeldtherapie unterziehen. Dann muss jedoch eine im Bein eingesetzte Platte operativ entfernt werden, da diese das Breitenwachstum des Knochens behindert. Mittlerweile ist das Schienbein so stark beschädigt, dass erneut ein externer Fixateur eingesetzt werden muss. Aber das, was wieder etwas Hoffnung bringt, entzündet sich, verursacht heftige Schmerzen – und muss entfernt werden.
Lauras Mama nimmt Kontakt zu uns auf und sagt: „Laura möchte endlich ohne Stöcke laufen können und sportlich aktiv werden. Sie hat keine Geduld mehr, ist unausgeglichen und genervt von den ständigen Ermahnungen, vorsichtig und langsam zu laufen. Sie ärgert sich, wenn sie bei vielen Aktivitäten in der Schule und mit ihren Freunden nicht selbständig mitmachen kann. Da wir nicht wissen, welche gesundheitlichen Auswirkungen die Grunderkrankung von Laura für ihr weiteres Leben bringen wird, möchten wir, dass Laura nun endlich eine Verbesserung ihrer derzeitigen Lebensqualität erhalten kann!“
Der Familie ist klar, dass alle Ärzte wirklich alles für die Verbesserung Lauras Situation getan haben. Aber Simone sagt: „Laura fehlt die Motivation für weitere Versuche und wir denken nun über eine mögliche Amputation des Beines nach!“
Als ich Laura im September 2010 kennenlerne, steht mir etwas gebeugt an Gehhilfen ein Mädchen mit wachen Augen und großer Energie gegenüber. Sie, ihre Eltern und ich reden, diskutieren. Ich beantworte Fragen zum Leben mit einer Amputation. Laura möchte endlich hüpfen, springen und laufen wie andere Kinder ihres Alters. Obwohl erst 10 Jahre alt, sieht sie mit großer Entschlossenheit die Amputation als Möglichkeit, deutlich weniger oder gar keine Zeit mehr in Krankenhäusern verbringen zu müssen. „Mutig“, denke ich. Aber ich weiß auch, dass es andere Kinder geschafft haben und damit endlich Kind sein durften.
Am 6. September 2010 wird Laura der rechte Unterschenkel amputiert.
Seither sind fast sieben Jahre vergangen und ich treffe Laura und ihre Eltern regelmäßig. Laura hat im Sommer erfolgreich die Schule beendet. Sie geht nun in ein Freiwilliges soziales Jahr, möchte sich ausprobieren in der Geriatrie eines Krankenhauses.
Aus dem Mädchen ist eine offene, fröhliche und selbstbewusste junge Frau geworden – da sind sich ALLE einig! Die unzähligen Operationen in ihrer Kindheit hat sie zwar nicht vergessen, aber sie spielen keine Rolle mehr in ihrem und im Leben ihrer Eltern. Trotz all der Operationen hat sie nie ihre Fröhlichkeit und ihren Lebensmut verloren. Und die Amputation, für die sie sich so mutig entschiedenen hat, hat letztlich die erhoffte Freiheit und Lebensqualität gebracht. In der Schule waren Sport, Kunst und Bio ihre Lieblingsfächer. Aber auch alles, was ihre kreative Art anspricht, macht sie mit großer Begeisterung. Sie liebt Tiere, geht regelmäßig zum Schwimmen und reist gern – genau wie Menschen ohne Amputation. Im Sport hat sie schon viele Siege errungen – nicht nur Pokale, sondern Anerkennung für ihren Mut und ihre Unerschrockenheit!
Eines ist sicher: Die Amputation wird sie nicht hindern, wenn sie vielleicht im kommenden Jahr eine Ausbildung zur Ergotherapeutin beginnt.
(*)Bei Morbus Recklinghausen handelt es sich um eine genetische Erkrankung. Mediziner zählen sie zu den sogenannten Phakomatosen (geschwulstähnliche Gewebsveränderungen). Darunter versteht man Krankheitsbilder, die mit der Bildung bestimmter – überwiegend gutartiger – Tumoren der Haut und des Nervensystems einhergehen. Zudem ruft Morbus Recklinghausen auch Veränderungen an den Knochen sowie an den Gefäßen der Haut, der Augen und des Gehirns hervor. (Netdoctor)