Ich besuche Herrn Kramer. Herr Kramer sitzt zusammengesunken auf dem Sofa, das Gesicht angespannt, die Augen ohne Glanz. Ein Bild auf der Kommode: Herr Kramer und seine Frau. „Das war vor zwei Jahren“, sagt er, als hätte er meine Gedanken erraten: „Ja, ich weiß, Sie denken, das müsste mindestens 10 Jahre her sein!“. Das stimmt: Herr Kramer sieht auf dem Bild wirklich mindestens 5 Jahre jünger aus. „Junge Frau“, sagt er zu mir – und eigentlich müsste ich mich geschmeichelt fühlen, aber mir ist nicht nach Komplimenten – nicht jetzt, wo ich das Leid, die Angst und den Schmerz im Gesicht von Herrn Kramer sehe. „Junge Frau, können Sie sich vorstellen, wie es ist, mit einer nicht heilenden Wunde am Fuß zu leben?“
Er beginnt den Verband von seinem Fuß abzuwickeln… „Das unter dem Verband ist mein Fuß – oder besser – war mein Fuß – aber er gehört nicht mehr zu mir…!“ Er wickelt weiter.
Was ich nun sehe, sehe ich oft. Aber zusammen mit dieser aufgebrachten Verzweiflung, in der so viel Energie steckt, habe ich es selten erlebt. Der Fuß von Herrn Kramer: bläulich, eitrig gelb, rot, blutunterlaufen, an einigen Stellen schwarz – der Geruch von Verwesung. Das, was ich hier erlebe ist die menschliche Seite dessen, was medizinisch „pAVK“ genannt wird – ein arterieller Verschluss. „Meine Ärzte kämpfen seit fast 2 Jahren um den Fuß. Sie haben so unglaublich viel für mich getan: Bypässe, Wundversorgung auf höchstem Niveau – aber seit einigen Monaten wird es immer schlimmer und meine Schmerzen unerträglicher.“ Er verzieht schmerzerfüllt das Gesicht, sieht mich an: „Bitte, Frau Vogt-Bolm, erzählen Sie mir vom Leben nach einer Amputation. Dieser Zustand ist furchtbar, “ er zeigt auf seinen Fuß, „aber wie ist es ohne Bein – wird es nicht noch schlimmer? Ich kann es mir einfach nicht vorstellen, nicht greifen!“
„Hilfe“, denke ich, „jetzt muss ich professionell reagieren!“ Weiß ich doch selbst seit frühster Kindheit, dass ein Leben mit Prothese (für mich) kein Problem ist, dass alles möglich ist, was ich will. Diese „Behinderung“ war für mich nie ein Hindernis – aber was kann Herrn Kramer in diesem Moment helfen? Was kann ich seiner Frau sagen, die sich bisher still und fast unsichtbar im Hintergrund aufgehalten hat – unsicher, erschöpft von Wochen, Monaten voller Fürsorge, Belastung, einem ständigem Wechsel zwischen Hoffen und Zweifeln und Angst um ihren Mann. Natürlich weiß ich durch den Arzt von Herrn Kramer, wie die Situation ist: „Amputation – die letzte Möglichkeit“ – ja, deshalb bin ich hier. Ich gehe mit Herrn Kramer die Stationen durch: Sein Leiden jetzt, der schmerzliche Eingriff der Amputation, die kurz bevorsteht. Ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Herr Kramer schüttelt den Kopf als wolle er böse Gedanken oder einen schlechten Traum vertreiben. „Meine Güte, Frau Vogt-Bolm, ich habe auf diesem Bein Rock n Roll getanzt – damals als ich meine Frau kennenlernte. Ich war der Salonlöwe auf dem Tanzparkett…“
Erinnerungen.
Aber wir müssen (leider) wieder in die Gegenwart zurück – über die bevorstehende Operation sprechen. Ich erzähle Herrn Kramer vom Weg, den er jetzt durchlaufen wird. Sage ihm das, was er eigentlich schon weiß, aber sich nicht vorstellen kann: Man wird ihm das Bein oberhalb des Knies amputieren. Wir nennen das Oberschenkelamputation. Wir sprechen über das erste „Vermessen“ des Stumpfes, erstem Anpassen von Prothesenteilen, vom „Wieder-auf-die-Beine-Kommen“. Ich schildere ihm, dass die meisten schmerzgeplagten Patienten schon bald nach dem Eingriff weitestgehend schmerzfrei sind – sage ihm, dass ich ihn begleiten werde, wenn er die ersten Schritte macht (dann werde ich ihn zum ersten Mal vor mir stehen sehen!) – ihn unterstütze, wenn es darum geht, eine passende Reha-Klinik auszuwählen – dass ich ihn wieder ins Leben begleiten werde, nach durchgeführter Reha. Aber ich werde auch seine Frau begleiten, sie unterstützen, aufbauen, da sein, wenn sie Fragen hat. Und ich werde gemeinsam mit unserem beratenden Bauingenieur, der selbst seit langem oberschenkelamputiert ist und ehrenamtlich für uns arbeitet, die Wohnung ausgiebig ansehen und mögliche Stolpersteine, Hürden oder Hindernisse aufspüren. Ich werde ihn auch – wenn nötig – bei Anträgen bei seinen Leistungsträgern unterstützen und einfach da sein, wenn Fragen auftreten.
Nach unserem Gespräch sind Herr und Frau Kramer deutlich ruhiger. Nein, die Angst vor dem, was kommt, konnte ich ihnen nicht vollkommen nehmen, aber ich konnte Fragen beantworten, Unsicherheiten aus dem Weg räumen. Eine Stunde, bevor Herr Kramer ein paar Tage später in den OP geschoben wird, bin ich bei ihm. Ich frage ihn, was er sich am meisten wünscht, wenn er wieder gehen kann. Er sieht mich mit tränengefüllten Augen an: „Mit meinem Enkel Laterne laufen!“
Zwei Wochen nach der Amputation steht er mir zum ersten Mal auf zwei Beinen gegenüber – noch unsicher, wacklig, ungewohnt. Ich staunte: Herr Kramer ist ein riesiger Kerl – fast eins neunzig. Bisher kannte ich ihn nur zusammengesunken oder liegend. Inzwischen sind mehrere Monate vergangen und Herr Kramer macht große Fortschritte. Die Reha ist gut verlaufen. Herr Kramer hat großen Willen, viel Mut und Kraft aufgebracht. Trotzdem gab es auch immer wieder Momente großer Traurigkeit, Angst und Schmerz: die Trauer um den Verlust seines Beines, Angst es nicht zu schaffen, Schmerz bei Druckstellen am Stumpf.
Aber ich bin sicher, Herr Kramer wird es schaffen! Inzwischen ist er wieder zuhause, geht nach draußen und nimmt regelmäßig an unseren Mobilitäts- und Sportgruppen teil, tauscht sich in Erfahrungsgruppen mit anderen aus – lacht, macht Späße und wird immer sicherer mit seiner Prothese …
Letzte Woche habe ich ihm eine Laterne geschenkt …